Unternehmen

„Jetzt zählt wirklich jede Sekunde“

10.03.2020 - Dirk Clasen ist hauptberuflich Referent der kaufmännischen Geschäftsführung, assistiert bei Projekten wie zum Beispiel dem Neubau eines Lagers und führt eigenständig Teilprojekte aus. Neben diesem typischen Bürojob engagiert er sich ehrenamtlich für die Steinbeis Werksfeuerwehr – mit Leib und Seele.

Vor allem für Steinbeis ist die Unterscheidung zwischen Betriebs- und Werksfeuerwehr nicht unerheblich. Das Unternehmen ist als Papierfabrikant gesetzlich verpflichtet, eine Werksfeuerwehr zu beschäftigen. Der Ausbildungsstandard einer Werksfeuerwehr ist derselbe wie der einer freiwilligen Feuerwehr. Foto: Steinbeis Archiv

Wie ein Ozeandampfer ragt die Zentrale von Steinbeis Papier mit ihren runden Bullaugen in die Höhe. Verstärkt wird das Bild von dem vorgelagerten Teich und dem Plätschern der Wasserfontäne. Seit 1911 ankert das Werk auf den Glückstädter Feldern. Über 300.000 Tonnen Recyclingpapier werden hier jährlich produziert (Stand: 2020). Als Rohstoff dient Papier aus der blauen Tonne. Imposante Berge aus Zeitungen, Broschüren, Briefumschlägen und Magazinen lagern deshalb im Innenhof des Werksgeländes. Bei so viel Papier ist Brandschutz besonders wichtig. Seit dem 10. September 1951 ist die Feuerwehr Steinbeis als Werksfeuerwehr anerkannt. Über 125 Männer und Frauen haben sich aktuell für den Dienst gemeldet, der weit mehr ist als nur ein Ehrenamt. „Die Feuerwehr ist wie eine große Familie“, sagt Dirk Clasen. „Die Kameraden arbeiten in unterschiedlichsten Abteilungen – erst durch die Werksfeuerwehr habe ich sie kennengelernt. Dieses Netzwerk ermöglicht mir auch bei alltäglichen Arbeiten ein agileres Handeln.“ Hauptberuflich ist er Referent der kaufmännischen Geschäftsführung.

Links: Schlauchkörbe mit C-Schläuchen für den Angriffstrupp zur Brandbekämpfung. Rechts: Pressluftflaschen für die Atemschutzgeräte. Jeder Atemschutzgeräteträger lernt das Wechseln der unter Druck stehenden Flaschen bei seiner Ausbildung.

Multinationaler Großkonzern vs. regionaler Klein- und Mittelständler

Bereits während des Abiturs war Dirk Clasen sicher, dass er eine Ausbildung zum Industriekaufmann einschlagen wollte – doch bei welchem Unternehmen? „Ich fragte mich, ob ein multinationaler Großkonzern für mich überhaupt infrage kommt – ein Konzern, der Regenwald für Palmöl-Plantagen abholzt, Pestizide herstellt oder Tierversuche durchführt. Das fühlte sich nicht richtig an.“ Auf einer Berufsfindungsmesse lernte er Steinbeis kennen. „Ich war total fasziniert davon, dass Steinbeis einen Nachhaltigkeitspreis gewonnen hat.“ Der Personalrecruiter lud ihn zu einer privaten Werksführung ein. Zwei Stunden ging es durch die Lager- und Produktionshallen des Unternehmens. Als Dirk Clasen danach in seinem Auto saß, war seine Entscheidung gefallen. „Diese riesigen Maschinen, die ganze Peripherie mit dem eigenen Kraftwerk und Klärwerk, der Recyclingprozess – hier wollte ich arbeiten“, erinnert er sich. Am 1. August 2011 fing seine Ausbildung bei Steinbeis an. Nur eine Woche später trat er in die Feuerwehr ein.

Die (Feuerwehr)leiter erklimmen

Jeder Feuerwehranwärter durchläuft in der Regel eine einjährige Ausbildung, in der er alle Dienste begleitet und die Aufgaben kennenlernt. Danach folgt die Ausbildung zum Truppmann bzw. ausgebildeten Feuerwehrmann in Grundfunktion. Dabei werden alle Inhalte vermittelt, die nötig sind, damit jeder Anwärter bei einem Einsatz jede Funktion einer taktischen Einheit besetzen kann und genau weiß, was zu tun ist. „Wenn die Grundausbildung abgeschlossen ist, hast du verstanden, was Feuerwehr ist.“ Dennoch bleibt das Team flexibel: „Die Aufgaben sind klar. Aber nicht jeder muss immer das Gleiche tun. Wenn man an dem einen Tag lieber Melder sein und mit dem Gruppenführer die Lage erkunden möchte, statt als Maschinist das Fahrzeug zu fahren, ist das vollkommen in Ordnung“, erklärt Dirk Clasen. Im Anschluss sind weitere Fortbildungen möglich, sodass Kameraden aus den verschiedensten Wachen im ständigen Austausch miteinander stehen – das schafft ein starkes Netzwerk zu anderen Feuerwehrleuten und Spezialeinheiten. Wenn dann ein Notfall eintritt, ist die Werksfeuerwehr nicht nur ausgezeichnet ausgebildet, sondern kann zusätzlich auf das Wissen von Experten zurückgreifen.

Nachdem er jeden Kurs abgeschlossen hatte, den es auf Kreisebene gab, leistete Dirk Clasen in den folgenden fünf Jahren Dienst ohne spezifische Funktion. In dieser Zeit übernahm er allmählich immer mehr Verwaltungsaufgaben – von den Einladungen zum jährlichen Teamevent über die Dienstgestaltung bis hin zur Planung von Einsatzübungen. Nach dem Abgang eines hochgeschätzten Kollegen übernahm er 2018 das Amt des stellvertretenden Wehrführers. „Prozesse und Dienste mitzugestalten, statt sie nur auszuführen, reizte mich am meisten daran“, erklärt er.

In einer Papierfabrik wird nicht nur mit Wasser gelöscht: Für die Elektronik steht zum Beispiel die CO2-Löschanlage bereit, die das Feuer erstickt.

Nun absolviert er in Harrislee bei Flensburg in der Landesfeuer-wehrschule die Ausbildungen sowohl zum Zugführer als auch zum Verbandsführer, die jeweils für größere taktische Gruppen verantwortlich sind. „Das Übungsgelände dort ist der Wahnsinn. In Häusern können Einsatzfälle nachgespielt werden inklusive Brandsimulation und allem, was dazugehört“, schwärmt Dirk Clasen. In den Übungen muss der simulierte Ernstfall bewertet werden: Wie muss das Team vorgehen? Wer muss wohin? Gibt es Menschen, die gerettet werden müssen? Welche Brandschutzmittel sind sinnvoll? Alles in allem: Wie muss der Einsatz strukturiert werden, um erfolgreich zu sein? Gleichzeitig lernt Dirk Clasen in diesen Lehrgängen, welche Verantwortung mit der Führungsposition einhergeht. Angefangen bei den Gefahren des Einsatzorts für die eigene Person wie für die Kameraden. Brennt es zum Beispiel im Keller, ist die Gesamtsituation schon unangenehm – kommen aber noch Stromleitungen hinzu, wird es umso gefährlicher. Dirk Clasen muss in solchen Fällen sein Team auf mögliche Gefahren hinweisen und diese bei der Einsatzplanung berücksichtigen.

Wenn es brennt, muss es schnell gehen. Insgesamt zwei Minuten hat jeder der 125 Kameraden Zeit, um die Dienstkleidung anzulegen – Atemschutzgerät inklusive. Jede Gruppe setzt sich zusammen aus einem Gruppenführer und acht Kameraden, die auf dem Fahrzeug sitzen: dem Maschinisten und Melder sowie dem Ankunfts-, Wasser- und Schlauchtrupp. Was genau deren Aufgaben sind, lernen Anwärter bei der Truppmannausbildung.

Stets bereit für den Brandeinsatz

Damit diese komplexen Entscheidungen nicht erst getroffen werden, wenn der Brand schon ausgebrochen ist, erarbeitet Dirk Clasen gemeinsam mit den anderen Gruppenführern bei Steinbeis regelmäßig neue theoretische Schadensszenarien. Ein Beispiel: Brennt es in der Papierproduktion, darf auf keinen Fall ein kalter Wasserstrahl auf die extrem heiße Walze gehalten werden – sie würde in tausend Teile bersten. Deshalb hängen hier spezielle Pulverlöscher an der Wand. So identifiziert Dirk Clasen mit den anderen Führungspositionen die Anforderungen in den Produktionsabschnitten und passt die Einsatzstrategien entsprechend an – immer unter Berücksichtigung der bereits etablierten Brandschutz- und Löscheinrichtungen. Die anderen Kameraden werden regelmäßig durch die Anlagen geführt und darüber informiert, welche Gefahren berücksichtigt werden müssen. Auch regelmäßige Einsatzübungen sind unverzichtbar. Jeden Montag hat die Werksfeuerwehr deshalb Dienst. Dabei werden zwei Stunden lang direkte Brandabwehrmaßnahmen geschult. Die Vorbereitung und Durchführung des Unterrichts übernimmt der Wehrvorstand.

Eine besondere Herausforderung stellt sich indes, wenn neue Anwärter anfangen. Besonders wenn es so viele sind wie in diesem Jahr: Von den 16 neuen Auszubildenden bei Steinbeis haben sich zehn für die Feuerwehr gemeldet. „Man unterrichtet eine Oberstufe und bekommt auf einmal zehn neue Schüler, die nicht lesen und schreiben können – da muss man kreativ werden, damit es im Ernstfall trotzdem rund läuft“, so Dirk Clasen. Deshalb erhalten die Neuankömmlinge nun eine Grundausbildung mit einem externen Ausbilder. In einer Woche lernen sie so die Basics.

Damit im Ernstfall der Trupp vollständig einsatzbereit ist, organisieren Dirk Clasen und die anderen Gruppenleiter außerdem einmal jährlich einen Atemschutztest auf dem Werksgelände von Steinbeis. Fahrradfahren, Hammerzüge, 20-Meter-Dauerleiter hochklettern und zuletzt der Hindernisparcours, den die Feuerwehrakademie für den Test auf einem Lkw mitbringt. Dabei wird möglichst realistisch simuliert, wie es sich anfühlt, sich mit schweren Sauerstoffflaschen und Atemschutzmaske durch enge, dunkle Räumen zu zwängen. Die Übungsstrecke ist stark vernebelt und auf etwa 45 Grad Celsius aufgeheizt, vom Band dringt Kindergeschrei in die Ohren der Feuerwehrmänner, Blitzlicht und Rauchmaschine vernebeln die Sicht. Zur Sicherheit wird die Strecke permanent mit einer Nachtsichtkamera überwacht, die Gitterwände haben Schnellzugriffe für den Notfall, und die gesamte Anlage kann mittels Notabsaugung binnen Sekunden rauchfrei gemacht werden. Dennoch: Die Übung ist hart und nichts für schwache Nerven – genauso wie der Ernstfall.

In den Leitungen der Sprinkleranlagen steht permanent Wasser. Bricht ein Feuer aus, zerspringt die Glasampulle im Sprinklerkopf, und das Wasser fließt sofort – genau über der Stelle, an der es brennt. „Das heißt auch, dass alle Filme, in denen mit einem Feuerzeug die gesamte Anlage aktiviert wird, totaler Quatsch sind“, sagt Dirk Clasen. Gesteuert wird das gesamte System über die Sprinklerzentrale.

Prävention ist der beste Schutz

In einer idealen Welt greifen die Brandschutzsysteme so gut, dass es gar nicht erst zu einem Brandeinsatz kommt. Um den Ausbruch eines Feuers zu verhindern, stecken deshalb verschiedene bauliche Brandschutzmaßnahmen in den Fabrikhallen, nicht zuletzt auch aufgrund der Auflagen der Brandschutzversicherung. So ist bei den Sprinkleranlagen im Papierlager etwa eine Wasserbeaufschlagung nötig. „Im Ernstfall verteilen unsere Anlagen also nicht zaghaft ein Glas Wasser über dem Brand, sondern quasi gleich die ganze Gießkanne“, so Dirk Clasen. Sie werden aktiviert, sobald irgendwo ein Feuer entsteht, und verhindern die weitere Ausbreitung. Auch Schaumanlagen sind in der Papierindustrie typisch. Unter dem Glättwerk mit den extrem heißen Walzen steht deshalb ein 2.000 Liter großer Tank, in dem permanent Schaum bereitsteht. Wird ein Alarm ausgelöst, füllt sich die gesamte Anlage. So wird das Feuer erstickt, ohne die Walzen zu sprengen. Für die elektrischen Anlagen stehen außerdem CO2– sowie Argon-Anlagen bereit. Egal wie gut das Equipment ist und wie viele Präventionsmaßnahmen ergriffen werden: Am wichtigsten sind für Dirk Clasen die Kameraden. Ohne die geht nichts.

„Wenn der Alarm losgeht, dann schnellt erst mal dein Adrenalin hoch. Dein Herz pumpt, und du bist voll da“, so Dirk Clasen. Meist sind die Einsätze überschaubar. Ein verirrter Lithium-Ionen-Akku oder eine Bengalo-Fackel, die beide nichts im Papiermüll verloren haben, entzünden sich im Werk.

Wärmebildkameras wie diese können im Ernstfall Leben retten: Sie zeigen auch im vernebeltsten, dunkelsten Raum, wo der Brandherd ist und sich die Kollegen bewegen.

Es wird ernst!

Der größte Einsatz, den Dirk Clasen bisher erlebt hat: ein Brand im Kraftwerk, ausgelöst durch Asche, die aus Unachtsamkeit in die Tonne gefüllt wurde. Ein verbliebener Funke entzündete sich im Papierwerk und setzte die angrenzenden Materialberge in Brand. Der Alarm erreichte ihn abends um kurz vor acht. Die Rauchschwaden über dem Werk konnte er schon von Weitem auf der Landstraße sehen. „Da ist mir das Herz in die Hose gerutscht, und ich dachte: Donnerwetter, jetzt zählt wirklich jede Sekunde“, erinnert sich Dirk Clasen. Zeitgleich mit ihm kamen zwei Kameraden aus Itzehoe an, gemeinsam rannten sie in den Geräteraum, zogen sich um und liefen zum Einsatzort. Dort ging es schon rund: Die Glückstädter Feuerwehr war mit zwei Fahrzeugen im Einsatz, daneben die Werksfeuerwehr mit drei Einsatzwagen und dazwischen 90 Feuerwehrkameraden sowie fünf Löschkanonen. „Wir sind dann hinein, mit Atemschutzgeräten. Vor allem die Wärmebildkamera habe ich da erst richtig zu schätzen gelernt – ohne die siehst du nämlich nichts.“ Der Einsatz hat etwa zwei Stunden gedauert. Das Kraftwerk konnte gleich am nächsten Tag den Betrieb wieder aufnehmen. „Das Gefühl, dass wir gemeinsam dafür gesorgt haben, war unglaublich erfüllend.“

Auch wenn es meist kleinere Einsätze sind, die Dirk Clasen hochjagen – zum Beispiel eine Spinne, die über den Rauchmelder krabbelt –, schlägt einer der 2.000 Melder im Gebäude an, springt er los, um nachzusehen, was den Alarm ausgelöst hat. Jeder Alarm wird ernst genommen. „Du weißt nie, wann der nächste Einsatz kommt und was passiert. Das macht es so spannend und abwechslungsreich.“

 

Fotos: Valerie Bachert


Autor/-in

Valerie Bachert

Valerie Bachert ist Journalistin, Chefin vom Dienst und Nachhaltigkeits-Beauftragte. Ihr Interesse gilt den Bereichen ökologischer Landbau, bewusster Konsum, Artensterben, soziale Ungerechtigkeit und nachhaltige Ernährung.

Beiträge von Valerie Bachert


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