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Was wir jetzt brauchen, ist ein kollektives Umdenken

22.02.2022 - Immer mehr Menschen wollen einen Beitrag für eine bessere Zukunft leisten. Der Griff zu Recyclingpapier ist dafür ein guter erster Schritt. Doch es gibt viele weitere Möglichkeiten, den ökologischen Fußabdruck zu verringern: Von Recycling über eine vegane Ernährung bis zur beruflichen Umorientierung ist alles dabei. Bevor wir uns allerdings beherzt auf das Lastenrad schwingen und auf eine vegane Ernährung umsteigen, muss meist ein Umdenken stattfinden. Wer darin Unterstützung sucht, ist bei Nachhaltigkeitscoach Kerstin Mayer genau richtig.

Ich sitze in meinem Korbsessel vor der Laptopkamera und warte gespannt auf den nächsten Videocall. Als Journalistin stelle ich normalerweise die Fragen. Selten gerate ich selbst in die Rolle der Befragten. Umso aufregender ist mein Interviewtermin mit Kerstin Mayer – Architektin für nachhaltiges Bauen, Ökotante, Regenwurmretterin, aber vor allem: Nachhaltigkeitscoach. 

Kerstin Mayer (rechts) hat 2019 ihre Berufung gefunden – als Nachhaltigkeitscoach. Foto: Atelier LYN

Nachhaltig mit Leib und Seele

Bevor wir uns dem Beratungsteil mit anschließender Übung zuwenden, erzählt Kerstin von ihrem persönlichen Traumberuf. Selbst nennt sie sich gern „Ökotante” und war schon als Kind nicht zu bremsen: „Mit Cousine, Cousin und meinen Brüdern zog ich Müll aus Bächen und Wiesen. Mit den Nachbarskindern sammelte ich Unterschriften gegen den Walfang in Japan und Norwegen, um Greenpeace bei einer Kampagne zu unterstützen“, erklärt sie. In ihrem Architekturstudium und auch im Anschluss liegt ihr Schwerpunkt auf nachhaltigem Bauen – denn, was viele nicht ahnen, der CO2-Ausstoß des Bau- und Gebäudesektors ist viel höher als der des gesamten Verkehrs. Privat bastelt sie derweil Wurmkisten, wickelt ihre Tochter mit Stoffwindeln und kauft bei Unverpackt-Läden ein. Mit der Zeit wird sie im Freundes- und Familienkreis zum Öko-Guru: „Zwischen 20 und 30 fragten mich Bekannte immer öfter nach Tipps zum Thema ,nachhaltig leben‘“, erzählt Kerstin. Parallel besucht sie verschiedene Coachings und startet 2016 ihr Blog „Laboratorium für Nachhaltigkeit“. 2019 folgt unter gleichem Namen der Schritt in die Selbstständigkeit als Nachhaltigkeitscoach.

Nachhaltigkeit als Transformationsprozess

Der Blog-Name ist Programm, denn Nachhaltigkeit bedeutet für Kerstin vor allem, bereit zu sein für Experimente. „Ausprobieren, testen, scheitern, lernen, Neues wagen – nur so können wir die Welt verändern“, erklärt sie. „Die große Aufgabe unserer Gesellschaft ist das kollektive Umdenken. Wir müssen unsere Komfortzone verlassen, uns vom Schema F abwenden und freischwimmen von gesellschaftlichen Standards, denn genau die haben in den letzten 150 Jahren für die Umweltschäden gesorgt, mit denen wir nun konfrontiert werden. Würden wir uns mit weniger To-dos und Dingen umgeben, die uns eigentlich sowieso nur Nerven und Lebenszeit rauben, würde uns dieses reduzierte Leben nicht nur glücklicher, sondern auch sozialer machen. Denn eigentlich stehen genug Ressourcen für alle zur Verfügung.“ Natürlich schaffen wir diese Transformation nicht über Nacht. Doch bei diesem Prozess möchte Kerstin Menschen individuell begleiten. „Immer mehr sehen sich mit der herannahenden Bedrohung konfrontiert und fragen sich: Wie kann ich Nachhaltigkeit konkret umsetzen und gleichzeitig dafür sorgen, dass es mir persönlich gut geht?” Eine Universallösung gebe es nicht – jeder Mensch, jedes Leben sei anders. „Ich glaube, dass viele von uns einen guten Kompass in sich tragen – man muss sich nur trauen, dem zu folgen.”

Menschen, die auf der Suche nach dem Sinn sind – beruflich wie privat –, begleitet Kerstin Mayer in ihren „Positive Impact Sessions“ mit Gesprächen und Übungen. Fotos: Atelier LYN, Symbolbild: Angela Roma/Pexels

Auf dem Weg Richtung Nachhaltigkeit

Als Navigationshilfe bietet Kerstin zum Einstieg kostenlos sogenannte „Positive Impact Sessions” an. In rund 30 Minuten lernen Interessierte und Coach sich kennen – schließlich muss es zwischenmenschlich passen. Mit kleinen Übungen versucht sie außerdem für jede:n einen unmittelbaren Mehrwert zu generieren. Wer danach Interesse an einem persönlichen Coaching hat, kann dieses buchen und sich zum Beispiel für drei Monate alle zwei Wochen mit Kerstin digital treffen. Zu ihren Klient:innen zählen viele „Ökotanten”, doch auch immer mehr Menschen, die sich selber nicht als solche bezeichnen würden und auch nicht im Freundeskreis so wahrgenommen werden. „Diese Menschen mit Öko-Herz spüren die Dringlichkeit und Not, wissen aber noch nicht genau, wie und wo sie ansetzen können.” Aus Sicht der Expertin ist einer der wichtigsten Hebel das berufliche Umfeld – schon allein weil es so viel Zeit in unserem Leben einnimmt. Im Gespräch mit den Klient:innen betrachtet Kerstin deshalb vor allem die aktuelle berufliche Situation, die Ausbildung und die persönlichen Interessen. „So bekomme ich ein gutes Gespür dafür, was die Person will, wo sie steht und wo sie hinwill. Eine meiner Klient:innen möchte sich nach der Babypause zum Beispiel beruflich komplett neu sortieren und den Sprung in die Selbstständigkeit wagen. Dabei stehe ich ihr bei“, erklärt sie.

Von der großen Bühne in die eigenen vier Wände

In die Zukunft blickt Kerstin hoffnungsvoll, doch um das Ruder jetzt noch herumzureißen und die Menschen zum Umdenken zu bewegen, sei es besonders wichtig, die Wissenschaftler:innen ernst zu nehmen. „Wenn wir endlich auf den Weltklimarat hören würden und daraus echte Handlungen auf politischer Ebene ableiten würden, wären wir schon ein ganzes Stück weiter“, sagt Kerstin. Doch das ist die ganz große Bühne. Für jede:n Einzelne:n sei es wichtig, nicht nur im Verstand zu verharren, sondern die unangenehmen Emotionen wie Sorgen und Ängste auch zuzulassen, denn gerade diese starken Emotionen können eine Menge Kraft freisetzen, um wirklich etwas zu bewegen. So erklärt Kerstin: „Ich wünsche mir, dass abseits der aktuellen Frontenbildung etwas Neues entsteht und die Menschen lernen, Unterschiede auszuhalten. Zum Glück begegnen mir gerade viele, die eine ähnliche Entwicklung durchleben und ihre Energie nutzen wollen, um etwas Gutes in der Welt zu bewirken. Genau da setze ich mit meinen ,Positive Impact Sessions‘ an.“

In ihrem Beruf als Architektin praktiziert Kerstin echten Öko-Bau-Idealismus – abseits der inzwischen so gehypten Zertifizierungen für Gebäude. „Zwar haben die auch ihr Gutes, aber wer genau hinschaut, ist oft enttäuscht, welche Materialien als nachhaltig gelten. So ein Gebäude kann nämlich auch eine fette Styropordämmung haben”, erklärt Kerstin. Solche halb garen Lösungsansätze stellen sie nicht zufrieden, weshalb sie sich stetig weiterbildet – aktuell etwa im Fernlehrgang „Baubiologie“ (IBN). Foto: Atelier LYN

In genau solch einer Session finde ich mich gerade wieder. Nach einem Gespräch zur persönlichen Situation folgt die Übung, während der ich mit meinem Zukunfts-Ich in 15 Jahren kommuniziere. Ganz locker und ungezwungen soll ich meine Gedanken schweifen lassen, mir vorstellen, wo ich bin und wie ich aussehe. Das ist leicht und bringt mich zum Schmunzeln: angelehnt an die schweren Türrahmen einer kanadischen Blockhütte, mit kurzen Haare, einem breiten Grinsen und einer Sonnenblumen-Latzhose. Was ich zu mir selbst sage, ist dann schon schwieriger, doch ungleich wohltuender. Als Kerstin und ich unser Gespräch beenden, kann ich mir gut vorstellen, wie sie mit diesen kleinen positiven Schwingungen im Alltag allmählich eine Welle auslösen kann.

Manche Dinge ändern sich nie: „Wenn ich einen Regenwurm auf dem Weg sehe, der mir ein bisschen verzweifelt vorkommt, setze ich ihn in die Wiese zurück. Das habe ich schon als Kind gemacht. Das bin einfach ich.“ Kerstin Mayer ist „Ökotante“ mit Leib und Seele und steht dazu. Gleichzeitig macht sie niemandem einen Vorwurf, der nicht genauso tickt wie sie. Jede:r sei anders, besser als Unterschiede hervorzuheben sei es, Brücken zu schlagen, um gemeinsam dem zu begegnen, was die Zukunft bereithält. Für ihren Weg hat sie sich ein klares Ziel gesetzt: Bis Ende 2024 möchte sie 1.000 Menschen gezielt dabei begleiten, weniger Plastik zu nutzen, weniger Müll zu produzieren oder ihren ökologischen Rucksack zu erleichtern. (Letzteres kann man übrigens hier ganz leicht selber berechnen.) Hilfreiche Tipps dazu finden Interessierte in ihrem Blog, dem 2021 erschienenen Buch „Zero Waste – ohne Stress: Dein Start in ein nachhaltigeres Familienleben” oder natürlich in einer ihrer Positive Impact Sessions. Fünf Prozent ihres Umsatzes spendet sie direkt an gemeinnützige Projekte und Initiativen.

 

Titelbild, Symbolbild: cottonbro/Pexels


Autor/-in

Valerie Bachert

Valerie Bachert ist Journalistin, Chefin vom Dienst und Nachhaltigkeits-Beauftragte. Ihr Interesse gilt den Bereichen ökologischer Landbau, bewusster Konsum, Artensterben, soziale Ungerechtigkeit und nachhaltige Ernährung.

Beiträge von Valerie Bachert


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