Ökologie & Gesellschaft

Kamikatsu – die Stadt (fast) ohne Müll

Im Jahr 2021 lag die Recyclingquote des gesamten in Japan anfallenden Abfalls bei fast 20 Prozent, in Kamikatsu beträgt sie über 80 Prozent. Fotos: Cottonbro Studio/Pexels, Ron Lach/Pexels

Stellen Sie sich eine Stadt vor, in der Müll fast vollständig verschwunden und Nachhaltigkeit zum Lebensstil geworden ist. Mitten in der malerischen Präfektur Tokushima auf der japanischen Insel Shikoku liegt genau so ein Ort: Kamikatsu. Die kleine Gemeinde hat sich zum Ziel gesetzt, keinen Müll mehr zu produzieren und setzt dabei auf ein beispielloses Recyclingsystem.

Das Zero-Waste-Ziel

Die Reise von Kamikatsu begann 2003, als die Stadt beschloss, ihre Müllverbrennungsanlage aus Umwelt- und Kostengründen zu schließen. Anstatt jedoch einfach auf eine andere Art der Müllentsorgung umzusteigen, entschieden sich die Einwohner für einen radikalen Ansatz: die Einführung eines Zero-Waste-Konzepts. Dieses ehrgeizige Ziel bedeutet, dass die Stadt ihre Abfallmenge durch maximales Recycling, Wiederverwendung und Kompostierung auf nahezu null reduzieren will. 

Das beeindruckende Recyclingsystem 

Um dieses Ziel zu erreichen, hat Kamikatsu ein ausgeklügeltes Recyclingsystem eingeführt, das seinesgleichen sucht. Die Bewohner sind angehalten, ihren Müll in unglaubliche 45 verschiedene Kategorien zu trennen. Dazu gehören Papier, Glas, Kunststoffe, Metalle und sogar spezielle Kategorien für Altbatterien oder kaputte Glühbirnen. Jeder Haushalt hat detaillierte Anweisungen, wie die verschiedenen Materialien getrennt und gereinigt werden müssen, bevor sie zur zentralen Recyclingstation gebracht werden.

Die Recyclingstation, auch „Gomi Station“ genannt, ist das Herzstück des Systems. Hier bringen die Bewohner ihre sorgfältig getrennten Abfälle hin, wo sie aufbereitet und für das Recycling sortiert werden. Ein Großteil der Materialien wird entweder verkauft oder an Unternehmen weitergegeben, die daraus neue Produkte herstellen.

Neben einem strikten Recyclingsystem fördert Kamikatsu auch die Kompostierung organischer Abfälle. Viele Haushalte verfügen über eigene Kompostbehälter, in denen Küchenabfälle zu nährstoffreichem Humus verarbeitet werden. Dieser Humus wird dann zur Düngung von Gärten und landwirtschaftlichen Flächen verwendet, sodass ein natürlicher Kreislauf entsteht.

Die gemeinsamen Bemühungen um Recycling und Abfallreduzierung haben auch zur Stärkung der Gemeinschaft beigetragen. Die rund 750 Haushalte in Kamikatsu halten zusammen und helfen sich gegenseitig. Foto: Cottonbro Studio

Die Rolle der Gemeinschaft

Einer der Schlüssel zum Erfolg des Nachhaltigkeitsprojekts in Kamikatsu ist das Engagement der Gemeinschaft. Die Bewohner haben die Notwendigkeit erkannt, ihren Lebensstil zu ändern, um die Umwelt zu schützen und Ressourcen zu schonen. Durch Workshops, Schulungen und gemeinsame Aktivitäten wurden die Bürger für die Bedeutung von Nachhaltigkeit sensibilisiert und ermutigt, sich aktiv am Zero-Waste-Projekt zu beteiligen. So haben Gemeinde und Bewohner ein Ride-Sharing-System etabliert, das zum Einsatz kommt, wenn jemand beispielsweise die nächstgelegene Stadt Tokushima besuchen möchte. Um dorthin zu gelangen, nutzen Bürger und Besucher das Fahrgemeinschaftssystem der Stadt. Ungefähr 40 Menschen teilen sich eine Handvoll Autos, um Einwohner oder Besucher mitzunehmen. Sogar der Bürgermeister der Stadt hat sich als Fahrer zur Verfügung gestellt.

Ein weiteres Beispiel für bürgerschaftliches Engagement ist der Secondhandladen „Kuru Kuru“, in dem gebrauchte Gegenstände kostenlos abgegeben oder mitgenommen werden können. Das fördert die Wiederverwendung von Materialien und trägt dazu bei, den Verbrauch neuer Produkte zu reduzieren.

Darüber hinaus gibt es in Kamikatsu eine lokale Brauerei, die nachhaltige Herstellungsverfahren anwendet, indem sie beispielsweise die überschüssige Hefe aus dem Bierbrauprozess an Schweine verfüttert. Diese Art der Kreislaufwirtschaft zeigt, wie Nachhaltigkeit auch in andere Bereiche des täglichen Lebens integriert werden kann.

Kamikatsu blickt auf eine reiche Tradition der Landwirtschaft und des Gartenbaus zurück. Viele Bewohner pflegen ihre eigenen Gärten, bauen Gemüse und Reis an und stärken auf diese Weise die Vision einer nachhaltigen Stadt. Fotos: Ryutaro Tsukata/Pexels, Rocketmann Team/Pexels

Nachhaltigkeit als Lebensweise

In Kamikatsu ist Nachhaltigkeit nicht nur ein Projekt, sondern eine Lebenseinstellung. Die Stadt setzt sich auch in anderen Bereichen wie Tourismus und Landwirtschaft für umweltfreundliche Praktiken ein. So gibt es zum Beispiel ein Öko-Hotel. Das 2020 eröffnete Hotel Why ist Teil des Zero Waste Centers, das in Form eines Fragezeichens errichtet wurde, um die Frage darzustellen: Warum erzeugen wir so viel Abfall? Jeder Gast erhält sechs Behälter, in denen er während seines Aufenthalts seinen Müll sortieren kann. Die einfache, aber elegante Inneneinrichtung besteht ausschließlich aus recycelten Materialien, darunter eine Patchworkdecke aus Jeansresten und eine Wanddekoration aus Seilen. Die Möbel sind Ausstellungsstücke aus Showrooms.

Das Hotel legt Wert darauf, nur Produkte anzubrechen und an die Besucher auszugeben, die tatsächlich gebraucht werden. Beim Einchecken schneiden die Gäste einzelne Seifenstücke ab, damit sie genau die Menge bekommen, die sie für ihren Aufenthalt benötigen. Die Kaffeebohnen werden entsprechend der Anzahl der gewünschten Tassen gemahlen, damit nichts verschwendet wird.

Auch die Landwirtschaft in Kamikatsu hat sich nachhaltigen Praktiken verschrieben. Viele Landwirte setzen auf biologischen Anbau und verwenden natürliche Düngemittel, um ihre Felder zu bewirtschaften. Diese umweltfreundlichen Methoden tragen dazu bei, die Bodenqualität zu erhalten und den Einsatz von Chemikalien zu reduzieren.

Die Einwohner und Unternehmen von Kamikatsu bemühen sich zudem, die Lebensmittelabfälle so weit wie möglich zu reduzieren. Im Cafe Polestar gibt es zum Beispiel nur ein Gericht zum Mittagessen, um Abfall und Fehlproduktion zu vermeiden: Curry aus lokalem Gemüse. Sogar die Blätter, mit denen die Gerichte dekoriert werden, stammen aus lokaler Ernte rund um Kamikatsu. Dahinter steckt ein Nachhaltigkeitsprojekt namens Irodori, das bereits seit 1986 Produkte aus den üppigen Wäldern der Umgebung verkauft. An diesem Geschäftsmodell sind über 150 Familien der Stadt beteiligt, hauptsächlich Frauen im Alter von über 70 Jahren, die die Blätter pflücken, um mit ihnen komplizierte Muster zu gestalten. Die Blätter werden dann an gehobene Spas, Hotels und Restaurants in Japan und anderen asiatischen Ländern verkauft, die nachhaltiges Dekorationsmaterial verwenden möchten.

Inspirierendes Beispiel für Nachahmer

Die japanische Stadt Kamikatsu zeigt eindrucksvoll, dass eine nachhaltige Zukunft möglich ist, wenn die Bürger sich auf ein gemeinsames Ziel verständigen, gemeinschaftlich zusammenarbeiten und sich für den Umweltschutz engagieren. Mit ihrem beeindruckenden Recyclingsystem, ihrem Zero-Waste-Commitment und der Integration von Nachhaltigkeit in verschiedene alltägliche Lebensbereiche ist Kamikatsu ein faszinierendes Beispiel dafür, wie Städte ihre Abfallprobleme in den Griff bekommen können. Durch den Austausch von Erfahrungen und Erfolgen inspiriert Kamikatsu andere Kommunen, ähnliche Initiativen zu ergreifen und gemeinsam an einer grüneren und nachhaltigeren Welt zu arbeiten. Das Müllkonzept hat schon Neugierige aus Industrie und Wirtschaft ebenso wie junge Umweltaktivisten aus aller Welt angelockt. Auch sie wollen gemeinsam etwas bewegen.


Titelbild: Pixabay/Pexels


Autor/-in

Jan Strahl

Jan Strahl hat seit seinem Redaktionsvolontariat in Hamburg für nahezu alle großen und kleinen Verlage der Stadt als Journalist, Redakteur oder Autor gearbeitet. Er schreibt für Publikumsmedien und Corporate Publishing Publikationen über Kunst, Fashion, Lifestyle oder Wissensthemen.

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